Verfassung von Bosnien und Herzegowina

Die bosnische Verfassung ist rechtswidrig – siehe dazu auch https://hvmzm.de/2023/09/bosnische-verfassung-verstoesst-eklatant-gegen-europaeisches-recht/ .
Dazu eine fundierte Einschätzung der Lage von Neven Klepo, promovierter Politikwissenschaftler und Bosnien-Experte:

Vielen Menschen, die am Westbalkan interessiert sind, ist die Komplexität der Verfassung von Bosnien und Herzegowina bekannt. Sie ist dem ehemaligen Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen zufolge, Valentin Inzko, die beste Verfassung, die je in drei Wochen geschrieben wurde. Gleichzeitig ist sie der Beweis, dass keine Verfassung im Eilverfahren als Teil eines Friedensabkommens und unter Eindrücken von Kampfhandlungen geschrieben werden sollte. Denn die Verfassung hält kaum einer Prüfung im Hinblick auf die Einhaltung grundlegender Menschenrechte stand. Auch nicht trotz der großen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, dem Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen, dessen Amt im Daytonabkommen geschaffen wurde oder den Bemühungen der EU oder der USA. 

Nachdem bereits im Dezember 2009 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im berühmten Fall Sejdic/Finci, Klägern aus der Minderheitengruppe der Roma und Juden, eine Diskriminierung von Minderheiten in der Dayton-Verfassung festgestellt wurde, folgte nun Ende August eine nächste Abmahnung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für das politische System von Bosnien und Herzegowina. 

Der Kläger war diesmal Slaven Kovacevic, der selbst als Berater des kroatischen Präsidentschaftmitglieds Zeljko Komsic tätig ist. Slaven Kovacevic sieht sich selbst weder als Serbe, noch als Kroate oder Bosniake, seine Eigenbestimmung ist Staatsbürger von Bosnien und Herzegowina, “Bosanac i Hercegovac”. Der Kläger störte sich daran, mit dieser Eigenbestimmung seiner Identität nicht als Teil der Präsidentschaft oder als Repräsentanten des Hauses der Völker gewählt oder Kandidaten mit einer Eigenbestimmung außerhalb der Kategorie der konstitutiven Völker wählen zu können. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihm nun Recht, wobei sechs der sieben Richter gemeinsam für den Gerichtsbeschluss stimmten. Die bosnisch-herzegowinsche Verfassung verstoße demnach gegen Art. 1 des 12. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Bedingungen seien dahingehend diskriminierend, da weder die Wahl der Repräsentanten des Hauses der Völker noch der Präsidentschaft von Menschen unabhängig ihrer Zugehörigkeit zu den konstitutiven Bevölkerungsgruppen oder ihrer räumlichen Ansässigkeit möglich seien – denn wenn ein Bürger von Bosnien und Herzegowina in der falschen Entität lebt, kann er nicht für seinen favorisierten Kandidaten stimmen, wenn dieser in der anderen Entität kandidiert. Das Gericht stellte zudem fest, dass die ethnische Repräsentation die Teilung der Bevölkerung des Landes verstärke. Es sei zwar den Mitgliedern des Europarates, zu denen auch Bosnien und Herzegowina gehört, zulässig, Minderheiten Sonderrechte zuzuteilen, aber keines der konstitutiven Völker könnte nach Einschätzung des Gerichts der Kategorie Minderheit zugeordnet werden. Nach Einschätzung des Gerichts dürfe kein Wähler darüber hinaus gezwungen werden, innerhalb von bestimmten ethnischen Linien abstimmen zu müssen. Die Wahl muss demnach möglich sein, unabhängig vom Wohnort und der ethnischen Zugehörigkeit. Kurz gesagt: Jeder soll gewählt werden und wählen können. Das Gericht spricht also klar für eine Reform hin zu einer Wahl auf dem gesamten Bundesgebiet, was die Bedeutung der Entitäten deutlich vermindern würde im Hinblick auf die Repräsentation und Gesetzgebung auf der Bundesebene.

Eine echte Reform ist auch nach diesem Gerichtsbeschluss kaum zu erwarten.  Denn die politischen Eliten im Land sind nicht an einer Verfassungsänderung interessiert. Eine Auflösung des ethnischen Prinzips würde ihre Machtbasis schwächen. Diese Machtbasis dient aber nicht dazu, um eine möglichst gute Politikführung zum Wohle ihrer jeweiligen Bevölkerungsgruppe zu garantieren. Vielmehr ist sie das Fundament, den eigenen politischen Apparat zusammenzuhalten. Dies geschieht durch wirtschaftliche Abhängigkeiten und offene Drohungen, bei der falschen Wahlentscheidung, die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. Angesichts der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation im Land wirken diese Mechanismen des gewaltsamen Zusammenhalts immer härter. Hinzu kommt ein stetiges Hineinregieren in die bosnisch-herzegowinische Innenpolitik aus den Nachbarländern Kroatien und Serbien, die sich als Schutzstaaten der jeweiligen Bevölkerungsgruppen geben und Garant für die Aufrechterhaltung ethnischer Teilungen sind.

Das Handeln der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina gibt auch keinen Anlass für Optimismus im Hinblick auf die Umsetzung der Gerichtsurteile im Reformprozess. Die Entscheidungen vor allem des Hohen Repräsentanten wirken zuletzt kurzfristig angelegt und zu wenig durchdacht für die Komplexität des Falls.

Ein einigermaßen intelligenter Mensch würde sich nun fragen, warum wird in Bosnien und Herzegowina keine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die eine neue Verfassung maßgeschneidert auf das Land und wohlüberlegt ausarbeiten könnte. So einfach dieser Weg wäre, muss einfach festgestellt werden, dass die Akteure in Bosnien und Herzegowina kein Interesse daran haben. Die lokalen politischen Parteien können auf der einen Seite im Rahmen der Daytonverfassung die ethnische Teilung zur Disziplinierung und wirtschaftlichen Plünderung ihrer eigenen Interessengruppen nutzen. Die hohe Auswanderung aus Bosnien und Herzegowina erklärt sich vor allem daraus, dass sich die meist gut gebildeten Auswanderer in solch einem korrupten und diskriminierenden System keine Zukunft vorstellen können. Die internationale Gemeinschaft hat auf der anderen Seite eine mangelhafte Fehlerkultur, weshalb sie auf bestehenden Strukturen festhält, als die Beschreitung neuer Wege zuzulassen. Für Bosnien und Herzegowina bleibt jedoch die Hoffnung einer Nachkriegsgeneration, die nicht mehr in ethnischen Teilungen leben möchte, und sich für eine echte Verfassungserneuerung und nicht nur eine kleine Änderung einsetzt. Denn eine echte Änderung der Verfassung kann auch den Weg zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ermöglichen, den ein Großteil der Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas befürwortet.